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Solange ich mich erinnern kann, begeistern mich Geschichten jeder Art. Wahrscheinlich war ich das einzige Kind, was sich im Kindergarten mehr darauf freute, eine Geschichte vorgelesen zu bekommen als mit den anderen Kindern draußen zu spielen – und ich freute mich schon immer riesig auf das Spielen mit meinen Freundinnen und Freunden. Aber Geschichten waren etwas anderes, etwas Faszinierenderes. Ohne Gutenachtgeschichte weigerte ich mich ins Bett zu gehen und mein Vater meinte – nur halb im Scherz, wie er beteuerte –, ich hätte es mit ermüdender, aber bewundernswerter Konsequenz geschafft, einfach solange wach zu bleiben, bis ich doch noch meine Geschichte bekam. Auch wenn ich bei meiner damaligen besten Freundin übernachtete, bestand ich auf mein Recht. Wer mir vorlas, war mir fast egal, Hauptsache, es wurde gelesen. Kaum lernte ich schreiben, reihte ich Wort an Wort und brachte selbst kleine Geschichten zu Papier. Geschichten zu erzählen war für mich schnell ähnlich attraktiv wie Geschichten erzählt zu bekommen. Und bis heute ist meine Begeisterung für beides nicht weniger geworden, eher im Gegenteil. Ich höre mir (fast) alles an, was mir Menschen aus ihren Leben erzählen, und arbeite noch immer an eigenen Geschichten.

Nicht ganz so lange, aber doch schon seit mehreren Jahren bekomme ich von vielen Leuten zu hören, dass ich eine ziemlich talentierte Schreiberin sei: Von Lehrern – später auch von Dozenten und Professoren, von Freunden, von der Familie. Selbst mein Vater ist voll des Lobes, obwohl er dieses Talent lange für eine brotlose Kunst hielt (und wahrscheinlich immer noch hält). Meine Aufsätze erhielten immer gute Noten, die Geschichten, die ich früher in Schulhefte schrieb, und die Ausgaben der kleinen Zeitung, die ich als Jugendliche im Familienkreis herausgab, hat meine Mutter aufbewahrt und sorgfältig archiviert. Über die Phase, in der mir das überschwängliche Lob eher unangenehm war und ich lieber auf anderes Thema lenkte, bin ich inzwischen hinweg und längst habe ich mich mit der Vorstellung angefreundet, ganz gut schreiben zu können. Und auch wenn ich erst über den Umweg eines wirtschaftswissenschaftlichen Studiums dazu kam, ist es ein traumhafter, fast ein wenig unwirklicher Verlauf meiner Karriere, mein Lebensunterhalt mit dem Schreiben zu verdienen, einer Sache, die ich gut kann und die mir unheimlich viel Spaß macht.

Was sich aber wie ein Jackpot im Lotto mit anschließendem Bananensplit-Essen in der Altstadt Lissabons mit Blick auf den Tajo anhört, ist es nicht immer. Denn hier kommt wie häufig eine falsche Gleichung, die wir aufstellen, ins Spiel: Dass das, was wir gut können, uns immer leicht von der Hand gehen müsse. Besonders in den jugendlichen Jahren verfestigt sich häufig dieses Bild. Schließlich sind wir gut in dem, was wir tun, und wir wissen alles, was wir brauchen, um es zu tun. Warum sollte es also schwerfallen? So eine Phase hatte ich auch in den letzten Schuljahren, in denen ich eine bestimmte Fertigkeit entwickelt hatte und die Texte ohne Stocken nur so aufs Papier flossen. Was ich schrieb, war für diese Zeit echt gut, aber im Rückblick kann ich nur sagen: Die Idee war toll, die Umsetzung noch nicht so. Vielleicht kennst du das auch: Paradoxerweise tauchen die Schwierigkeiten meist auf, wenn du ein bestimmtes Level erreicht hast und dabei bist, richtig gut zu werden in dem, was du tust.

Als Schreiberin gehört für mich das leere weiße Papier zu einem der Alpträume, die ich zwar nachts nie träume, mit denen ich aber schon mehrmals zusammen am Schreibtisch saß (was um einiges unangenehmer ist, als deswegen in der Nacht schweißgebadet im Bett hochzufahren). Und auch wenn dein Nachtmahr vielleicht nicht das weiße Blatt Papier ist, weil du nicht schreibst, wirst du sicherlich ein Äquivalent dazu haben: Ob nun Schreiber, Anwältin, Biologe oder Sportlerin – sie alle kennen diesen Moment nur allzu gut, in dem ihnen das, was sie eigentlich überaus gut können, so schwer fällt, als sei es eine Aufgabe, die nie im Leben zu bewältigen sei.

Doch läuft nicht automatisch alles wie von selbst, hast du diesen einen Punkt erst einmal überwunden, denn dann folgt bereits das nächste Hindernis. Der Schriftsteller Stephen King fasste es folgendermaßen zusammen: „Talent ist billiger als Salz. Was den erfolgreichen Menschen vom talentierten unterscheidet, ist eine Menge harter Arbeit.“ Talentiert zu sein und etwas gut zu können, bedeutet nicht, dass es einem keine Mühe mehr macht, dass du nichts mehr lernen musst oder ausreichend Erfahrung besitzt und es bedeutet ebenfalls nicht, dass du nur noch Arbeit ablieferst, die deine Chefin oder Auftragsgeber in höchste Ekstase versetzt. Meine erste Hausarbeit bekam ich von meinem Professor mit dem Kommentar zurück, ob ich schon einmal was vom richtigen Zitieren gehört hätte – außerdem sei das hier kein Schriftstellerseminar. Und auch so mancher Artikel, den ich schreibe, kommt mit einem Berg an Anmerkungen und Kommentaren zurück: Hier fehlt ein Wort, da ist eins zu viel, falsche Zeichensetzung, dort stimmt die Grammatik nicht, der eine Satz ist eine leere Phrase und der andere eine ellenlange Verschachtelung, bei dessen erstem Nebensatz schon keiner mehr durchblickt, was er aussagen soll. Und natürlich ist dieser Augenblick nicht leicht, schließlich wird dir damit auch zu verstehen gegeben, dass deine Arbeit noch nicht die Erwartungen erfüllt.

Das ist beim ersten Mal (und manchmal noch viele Male danach) kein schöner Moment, der dich an dir und deinen Fähigkeiten zweifeln lässt. Du sitzt vielleicht zu Hause, holst die alten The-Cure-Platten hervor und rufst einen Freund an, damit er vorbeikommen möge, ein Bier (oder mehrere) mit dir zu trinken und der Geschichte deiner Schmach zu lauschen. So ging es zumindest mir. Vielleicht, dachte ich, war ich ja doch nicht so gut, wie alle sagten, und alles in allem bestenfalls eine mittelmäßige Schreiberin? Ein lautes Lachen war nicht unbedingt die Reaktion, die ich erwartet hatte – wo waren die tröstenden Worte? Verschnupft fragte ich den Freund, was so witzig sei. Er entschuldigte sich – immer noch lachend – und sagte, die Tatsache, dass gerade ich an mir zweifle, die Person, von der er es am wenigsten erwartet hätte und ich solle es ihm nicht übelnehmen, er sei davon nur überrascht worden. Ob ich wirklich nicht wüsste, wie gut ich sei? Ob mich ein einzelner Nackenschlag bereits so umhauen würde? Wir redeten bis spät in die Nacht, tranken Bier, und der Freund zählte mir verschiedene Gegenbeispiele auf, die mir zeigen sollten, dass das Gegenteil von Zweifel angebracht sei. Dann legte er mir noch seine Theorie dar, dass es keine gute Schriftstellerin und keine guten Schriftsteller gebe, die oder der nicht mindestens einmal in seinem Leben ein paar Wochen unter einer Schreibblockade gelitten hat.

Du merkst vielleicht schon, worauf ich hinauswill: Talent bedeutet nicht unbedingt, dass alles wie von alleine läuft. Gut in etwas zu sein, heißt nicht, zwangsläufig immer eine Arbeit abzuliefern, die andere vollends zufriedenstellt. Ein neuer Job ist immer eine kleine Umstellung, bei der vielleicht die eine oder andere kleine Anpassung nötig ist, da du noch nicht genau weißt, was erwartet wird. Und dein Talent und deine Fähigkeiten ersetzen auch nicht deine fehlende Erfahrung. Irgendwann stößt du vielleicht auf einen Widerstand, machst einen Fehler oder fängst aus irgendeinen anderen Grund an dir zu zweifeln. Und so gut du auch sein magst, du wirst weder an einem Punkt kommen, an dem du nicht noch etwas dazulernen könntest, noch wirst du gefeit davor sein, nicht dennoch einmal einen Misserfolg hinzulegen. Aber das Beruhigende ist: Das ist nur normal und geht auch allen anderen so – wenn du das akzeptiert hast, fällt dir zwar nicht alles vogelleicht, aber immerhin ein weniger leichter.

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