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Als ich klein war, so in etwa sechs Jahre alt würde ich schätzen, zog ein nettes Paar in das Haus, das direkt neben dem meiner Eltern stand. Zu dem Mann gehörte noch ein Sohn in meinem Alter, der seinen Vater jedes Wochenende besuchte – Timm. Eigentlich lebte er in einer anderen Stadt – war es Hannover? Ich weiß es nicht mehr. Wenn ich freitags aus der Schule kam, deutlich eiliger als an den übrigen vier Tagen, wartete ich auf der Stufe vor unserer Eingangstür auf ihn, manchmal brachte ich noch nicht einmal meine Schultasche hinein. Wenn ich den alten VW-Bus seines Vaters hörte, sprang ich auf und nahm Timm in Beschlag. Wir gingen Fische in dem kleinen Bach in der Nähe angeln, bauten Jahrelang an unserem sogenannten „Froschparadies“ und einem kleinen Haus im Garten seines Vaters – der Villa Sonnenschein. In meiner Erinnerung war sechs Jahre lang jedes Wochenende Sommer oder Schnee – eines von beidem. Sechs Jahre, die wie im Flug vergingen. Sechs Jahre, in denen sich das Paar nebenan immer schlechter verstand und sich letztendlich trennte. Sie blieb, zog nur einige Eingänge die Straße hinauf in eine Wohnung, er ging und mit ihm Timm. Ich glaube, ich habe ihn noch einmal gesehen, sicher bin ich mir nicht. Gedacht habe ich noch häufig an ihn.

Ich glaube beinahe jede Kindheit beinhaltet einen solchen Verlust. Vielleicht soll es uns auch das Verlieren lehren und das Trauer in solchen Momenten okay ist, auch wenn es die Person ja noch gibt und es vielleicht albern ist, das Ganze zu betrauern, als wäre es das Ende der großen Liebe. Es gibt das Erwachsenen-Äquivalent dazu: die Kündigung des Lieblingskollegen oder der Lieblingskollegin.

Ich schreibe diesen Artikel aus gegebenen Anlass: Heute ist der erste Tag ohne meine Lieblingskollegin Mona. Weißt du, der ganze Text war anders geplant, ich wollte ihn strukturieren wie sonst auch, mir fünf nette Tipps raussuchen, so etwas wie "verteile deine Liebe nicht nur auf eine Person" oder so etwas, aber das ist Quatsch. Wenn dein Fels im hektischen Büroalltag das Unternehmen verlässt, ist es einfach nicht mehr wie zuvor.

Was den Lieblingskollegen so wichtig macht, ist wohl diese ganz besondere Art der Freundschaft. Man sieht ihn mehr als die beste Freundin, die Eltern und den Partner zusammen. Acht Stunden des Tages, 50% des Wachzustands – meistens plus 'ne halbe Stunde Mittagspause. Vielleicht ist es auch die Tatsache, dass man mit dieser Person über einen ganz entscheidenden Aspekt im Leben reden kann, nämlich die Arbeit. Dieses eine Gegenüber hört dir nicht aus Höflichkeit zu (meistens jedenfalls), sondern weil sie deinen Job kennt und auch die anderen Pappnasen im Büro, deinen Chef, die Kunden und so weiter. Wenn ich mit meinen Freunden so viel über meine Arbeit sprechen würde, wie ich es mit meiner Lieblingskollegin getan habe, hätte ich wohl bald keine mehr. Selbst, wenn man seinen Job sehr mag, macht es gleichzeitig hin und wieder Spaß, sich gemeinsam zu ärgern, zu jammern und so zu tun, als wäre der Andere der einzige Verbündete in einer Schlacht, die jeden Tag aufs Neue beginnt. (Ich weiß, das klingt dramatisch, aber habe das Gefühl, dass der eine oder andere sehr wohl nachvollziehen kann, was ich meine.)

Ich würde euch gern ein paar nützliche Überlebenstipps an die Hand geben, aber eigentlich ist da nur der eine: Kopf hoch, bald beginnt ein neues „normal“. Am Anfang ist es ätzend, aber es wird sich mit der Zeit einpendeln. Klingt nicht hilfreich, ist aber so.

Schade ist nur, dass Freundschaft selten so bleibt, wie sie einmal war, sobald sich äußere Umstände verändern. Na klar treffe ich Mona wieder. Natürlich schreiben wir den Tag über, was in ihrem Büro so geht und was bei mir. Aber wenn wir uns treffen, fällt zukünftig der Aspekt, der uns ursprünglich einmal zusammengeführt hat, weg. Es kann nicht bleiben wie es ist, aber ich hoffe, es wird etwas anderes. Ich hoffe, dass aus der kollegialen Zweckgemeinschaft eine Freundschaft wächst, die lernt auf eigenen Beinen zu stehen. Beine, die mich auch nach Feierabend noch in 'ne Kneipe tragen oder in ein Restaurant, um zu hören, was im neuen Büro bei ihr so passiert. Um vielleicht zukünftig mehr über Privates zu sprechen als über Berufliches.

Das der Text wenig Ratschläge für dich parat hält, tut mir leid, doch was ich hoffe ist, dass du dir selbst vielleicht nun ein bisschen weniger albern vorkommst, wenn du deinen Lieblingskollegen vermisst. Es ist ein Text zum gemeinsamen traurig sein.

PS: Verzeihe mir jegliche Tippfehler. Mona hat sonst immer noch einmal über meine Artikel gelesen.

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